Wir haben keine Vorurteile. Als moderne, weltoffene junge Menschen sind wir aufgeschlossen Schwarzen und Homosexuellen gegenüber und uns der Sündhaftigkeit von Vorurteilen bewusst. Der Glaube, Schwule seien unnormal und trügen Frauenkleider, ist mit unserer Urgroßmutter gestorben.

Mit Vorurteilen ist es wie mit fettigen Haaren – keiner hat sie. Außer natürlich die anderen.

Jeder, der mal bewusst darüber nachdenkt, wird merken, dass das nicht stimmt. Wir alle fällen doch verfrühte Urteile über Menschen, die wir nicht kennen, oder Situationen, die wir nicht erlebt haben. Es muss dabei auch gar nicht um Schwule oder andere Minderheitsgruppen gehen. Als wir die gestresste Frau mit den fünf Kindern auf der Straße gesehen haben, haben wir da nicht sofort gedacht, dass die bestimmt überhaupt nichts unter Kontrolle hat und besser weniger Kinder in die Welt gesetzt hätte? Vielleicht hatte sie auch einfach nur mal einen schweren Tag. Wenn wir jemandem im Leinenkleid begegnen, wird sie sofort als „Ökotussi“ abgestempelt, auch wenn wir weder den sonstigen Kleidungsstil noch das Kaufverhalten kennen.

So ist das mit den Vorurteilen. Sie bauen auf ein einziges Merkmal auf, das sofort mit einer Reihe anderen assoziiert wird. Menschen werden in Schubladen gesteckt: Wer ein Leinenkleid trägt, kauft Ökoprodukte, fährt nur mit dem Fahrrad, baut im Garten Rüben an und protestiert gegen Atomkraft. Dieses Denkmuster ist ganz normal und erfolgt bei jedem Menschen schneller als er sich dagegen wehren kann. Das Verknüpfen von Informationen mit Erinnerungen ist für uns überlebenswichtig, denn sonst würden wir die Hand wohl immer wieder auf die Herdplatte legen. Bezogen auf Vorurteile ist aber vor allem eins wichtig: wir müssen es besser wissen. Die eingeschaltete Herdplatte ist immer wieder heiß, Menschen dagegen sind jeder für sich einzigartig. Wir müssen diese Voreingenommenheit deshalb überwinden und der „Ökotussi“ offen gegenübertreten. Gar nicht so einfach in einer Welt, in der sich Klischees mit den Vorurteilen der Menschen zusammentun, um ihren komplexen und anstrengenden Alltag zu entkomplizieren. Wer nach einem harten Arbeitstag die Nachrichten sieht, erfährt als erstes: „Türke schlägt anderen Jugendlichen zusammen.“ Im Nachmittagsprogramm kämpfen „die arbeitslose Hauptschulabbrecherin und Mutter dreier ungewollter Kinder“ und „der gewalttätige HartzIV-Empfänger“ um Einschaltquoten. Und schließlich informiert uns Cindy aus Marzahn über Mandy und Justin. Durch diese Komprimierung von Fakten werden Vorurteile geprägt, vor allem, wenn so lange komprimiert wird, bis die Fakten keine mehr sind. Nicht jeder „Plattenbaubewohner“ heißt Justin und ist so zurückgeblieben, wie Cindy das darstellt. Darüber lachen ist ja in Ordnung, dran glauben nicht.

Es ist der einzige Weg, Vorurteile zu vermeiden: Nicht alles glauben, was man sieht. Offen sein, sich ein eigenes Urteil bilden. Das klingt jetzt ein bisschen wie Urgroßmutters Standpauke, aber vielleicht war an der ja auch nicht alles schlecht.

Franziska Mock